Ich habe sie gerade mit eigenen Augen gesehen, als ich die Situation bei den Johannisbeeren erkundet habe. Dass ein bekanntes Berliner Antiquariat geschlossen wird, geschlossen ist inzwischen, das habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen. Das habe ich auf dem Blog des Bulgaren gelesen, der immer wieder interessante Dinge erzählt, wenn er die Schluchten des Balkans verlässt, um in Berlin nach neuen Anzeichen des Irrsinns Ausschau zu halten. Habe mir natürlich gleich Sorgen gemacht. Aus den Augen heißt ja nicht aus dem Sinn. Unbegründete Sorgen, wie ich inzwischen erfahren habe. Fake News. Man kann weiterhin gute Bücher zu günstigen Preisen in der Bergmannstraße kaufen.

Apropos mit eigenen Augen gesehen. Jenen Mann, der mit seinem Wirken dazu beigetragen hatte, dass ich 1981 die DDR verlassen durfte, habe ich nie mit eigenen Augen gesehen. Ich bin nie in den Grunewald gefahren, um mich zu bedanken. Zu viel war in den ersten Monaten im Westen auf mich eingeprasselt, und später…ich weiß es nicht. Seinen Nachnamen habe ich allerdings nie vergessen. Als ich gestern mit dem Freund in der Türkei telefonierte, der das alles damals in die Wege geleitet hatte, gab ich ihn noch während des Telefonats bei google ein. Der Freund hatte den entscheidenden Hinweis. Schwedische Kirche. Und zack. Plötzlich hatte ich eine ganze Webseite über Carl-Gustaf Svingel. Informationen. Fotos. Zitate vom Ostberliner Anwalt Vogel, Freund und Trauzeuge Svingels, der sich 1995 an dessen Sarg daran erinnert hatte, für wie viele der Verstorbene „ein unbekannter Schutzengel“ gewesen war. Er hatte 33000 Gefangene freigekauft – da wurde schon mal mit Waggons voller Kali bezahlt – hatte Medikamente und sogar Menschen im Kofferraum geschmuggelt. Das liest sich alles teilweise wie ein Krimi. Ich war nur eine von vielen, für die er sich verwendet hatte. 250000 Menschen hatten wie ich aufgrund seiner Intervention qua Familienzusammenführung die DDR verlassen können.

Jetzt, nach 46 Jahren, hat mein unbekannter Helfer plötzlich ein Gesicht, eine Geschichte. Noch Stunden später war ich gestern seltsam aufgewühlt, und während ich dies schreibe, spüre ich immer noch eine leichte Aufregung.

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